Gefährdungsbeurteilungen
Aus den Informationen hier und hier ist deutlich geworden, dass Gefährdungsbeurteilungen ein wesentlicher Teil, geradezu Dreh- und Angelpunkt des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sind. Das sieht auch das BAG so:
Die Gefährdungsbeurteilung ist ein zentrales Element des Gesundheitsschutzes und notwendige Voraussetzung für die betriebliche Umsetzung der Arbeitsschutzpflichten des Arbeitgebers.
BAG 1 ABR 72/12 vom 11.02.2014
Deshalb müssen sie richtig vorbereitet und durchgeführt werden.
Viele verwechseln Gefährdungsbeurteilungen mit so etwas wie einer TÜV Hauptuntersuchung: Es wird abgeglichen, ob bestimmte Standards erfüllt sind, und wenn das der Fall ist, wird gesagt „Prüfung bestanden, alles OK“. Zu diesem Zweck werden dann auch gern „Muster-Gefährdungsbeurteilungen“ aus dem Internet heruntergeladen.
Das wird aber der Funktion von Gefährdungsbeurteilungen nicht gerecht. Das BAG hat in seiner Entscheidung vom 08.06.2004 beschrieben, worauf es bei Gefährdungsbeurteilungen ankommt:
Damit stellen sich bei einer Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich jedes Beschäftigten zumindest die Fragen, welche Tätigkeiten beurteilt werden sollen, worin die mögliche Gefahr bei der Arbeit besteht, woraus sie sich ergibt und mit welchen Methoden und Verfahren das Vorliegen und der Grad einer solchen Gefährdung festgestellt werden sollen. Daneben ist die (Rechts-)Frage zu klären, inwieweit die Arbeitsbedingungen mehrerer Beschäftigter gleichartig sind und deshalb die Beurteilung eines Arbeitsplatzes oder einer Tätigkeit ausreicht.
BAG 1 ABR 4/03 vom 08.06.2004
Die Begriffe „Gefährdung“ und „Gefahr“ werden hier scheinbar synonym verwendet, was zumindest nicht glücklich ist. Allerdings schreibt der 1. Senat des BAG hier von einer „möglichen Gefahr“, und das macht es wieder richtig.
Unterschied zwischen „Gefährdung“ und „Gefahr“
§ 5 Abs. 1 ArbSchG lautet
Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.
5 Abs. 1 ArbSchG
Aufgabe einer Gefährdungsbeurteilung ist also, Gefährdungen zu ermitteln, die mit der Arbeit verbunden sind. Zwischen einer Gefährdung und einer Gefahr besteht ein Unterschied:
Die 7. Kammer des BAG hat in der Entscheidung 9 AZR 1117/06 am 12.08.2008 aus der Bundestags-Drucksache 13/3540 zur Begründung des ArbSchG zitiert:
Unter einer Gefahr ist im Bereich des Arbeitsschutzes eine Sachlage zu verstehen, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens zu einem Schaden führt. Dem Schadenseintritt muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit zugrunde liegen. Welcher Grad der Wahrscheinlichkeit ausreicht, ist unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach der Art der betroffenen Rechtsgüter zu bestimmen. Im Arbeitsschutz, bei dem es um Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer geht, genügt ein geringeres Maß an Wahrscheinlichkeit als bei einer Gefahr für Sachgüter.
Eine Gefährdung im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes tritt dagegen schon früher ein. Der Begriff der Gefährdung bezeichnet im Unterschied zur Gefahr die Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ohne bestimmte Anforderungen an ihr Ausmaß oder ihre Eintrittswahrscheinlichkeit
BAG 9 AZR 1117/06 vom 12.08.2008
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Funktionen der Gefährdungsbeurteilungen
Die Aufgabe einer Gefährdungsbeurteilung ist also, alle Gefährdungen zu identifizieren. Eine Gefährdung ist die bloße Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. Ob aus dieser Gefährdung auch eine konkrete Gefahr resultiert, ist zunächst einmal ohne Belang – eine Gefährdung ist also eine mögliche Gefahr.
Wenn Gefährdungen festgestellt wurden, muss ermittelt werden, ob und welche Maßnahmen erforderlich sind, um diese Gefährdungen zu beseitigen. Hierbei spielt natürlich eine Rolle, wie konkret die Gefahr ist, die aus der Gefährdung entsteht. Es bedarf also einer Beurteilung des Risikos dafür, dass aus der zunächst abstrakt-theoretischen Gefährdung auch eine konkrete Gefahr für die Gesundheit der betroffenen Arbeitnehmer resultieren kann.
Je höher das Risiko und je größer der durch die Gefährdung eintretende mögliche Schaden für die Gesundheit von Arbeitnehmern ist, desto dringender müssen Maßnahmen eingeleitet und durchgeführt werden und desto umfassender und wirksamer müssen die Maßnahmen zur Beseitigung der Gefährdung sein.
Hier kommt es natürlich auch auf individuelle Beurteilung bezogen auf die einzelnen Arbeitnehmer an. Eine Gefährdung kann bei dem einem Arbeitnehmer ein geringes Risiko einer gesundheitlichen Beeinträchtigung bedeuten, bei einem anderen eine sehr konkrete Gefahr. Aus der Handhabung von Lasten z. B. resultiert immer und grundsätzlich eine Gefährdung. Hulk hat aber vermutlich mit geringeren Beeinträchtigungen seiner Gesundheit zu rechnen, wenn er eine schwere Last handhabt, als andere Personen. Also sind bei anderen Personen andere Maßnahmen erforderlich als bei Hulk.
Hier habe ich die Grundlagen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes erläutert.
Belastungen, Beanspruchungen und Beeinträchtigungen
Bei einer Gefährdungsbeurteilung werden
- die Anforderungen,
- die Ressourcen und
- die äußeren Einwirkungen
daraufhin geprüft, welche Belastungen daraus resultieren können.
Belastungen sind noch keine Gefährdung, sondern der Begriff der Belastung ist neutral. Das wird manchmal missverstanden, weil im umgangssprachlichen Gebrauch der Begriff der Belastung natürlich negativ besetzt ist. Beim Arbeits- und Gesundheitsschutz wird aber unter Belastung verstanden, welche Auswirkungen von den unterschiedlichen Faktoren ausgehen.
Eine Belastung führt bei ihrer Bewältigung durch den Arbeitnehmer zu einer Beanspruchung. Die Beanspruchung ist also die Einwirkung der Belastungen auf den jeweiligen Arbeitnehmer. Hier erst kommt der „beurteilende“ Aspekt hinzu: Eine Beanspruchung kann die Gesundheit gefährden oder sogar beeinträchtigen, sie kann für die Gesundheit aber auch unschädlich oder sogar förderlich sein. Sportler z. B. beanspruchen sich beim Training. Damit wollen sie ihre Gesundheit aber gerade nicht beeinträchtigen, sondern ihre Leistungsfähigkeit steigern (so hoffen sie jedenfalls). Eine Belastung kann z. B. auch intellektuell „herausfordernd“ sein. Das muss sich aber nicht als negative Beanspruchung auswirken, sondern kann im Gegenteil gerade befriedigend sein, weil man die Herausforderung erfolgreich gemeistert und sich dadurch weiterentwickelt hat.
Wenn aus der Belastung eine die Gesundheit beeinträchtigende oder sie gefährdende Beanspruchung resultiert, spricht man von „Fehlbeanspruchungen“. Dann sind Maßnahmen erforderlich, die die Beanspruchungen so ändern, dass die Fehlbeanspruchung beseitigt werden. Gelegentlich wird der Begriff „Überlastung“ verwendet (z. B. bei „Überlastungsanzeigen“). Der Begriff ist umgangssprachlich richtig, aber in der Systematik der Begriffe des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nicht ganz korrekt. Besser wäre es, von „Überbeanspruchungen“ oder eben „Fehlbeanspruchungen“ zu sprechen – die „Überlastungsanzeige“ wäre demnach ganz korrekt eine „Überbeanspruchungsanzeige“ – schreckliches Wort.
Eine Gefährdungsbeurteilung betrachtet also das Gesamtsystem aus Anforderungen, Ressourcen und Einwirkungen und den daraus resultierenden Belastungen und Beanspruchungen.
Auswahl der Tätigkeiten und Arbeitsplätze
Weil aber die Ressourcen bei unterschiedlichen Personen durchaus unterschiedlich sein können, genügt es nicht, einen „prototypischen“ Arbeitsplatz bzw. eine solche Tätigkeit zu untersuchen. Im Prinzip müsste man für jeden einzelnen Arbeitnehmer eine individuelle Gefährdungsbeurteilung durchführen. Hinzu kommt, dass ja auch die Arbeitsaufgaben und die daraus entstehenden Anforderungen nicht bei jedem Arbeitnehmer z. B. in einer Abteilung ganz genau miteinander übereinstimmen.
Das wird aber in der Praxis schwierig, und bestimmte Belastungen kann man natürlich auch „prototypisch“ ermitteln. Deshalb steht am Anfang der Gefährdungsbeurteilungen die Ermittlung,
- welche Tätigkeiten ausgeübt werden,
- welche Anforderungen daraus resultieren,
- an welchen Arbeitsplätzen diese Tätigkeiten ausgeübt bzw. Anforderungen erfüllt werden und
- ob und wie man Tätigkeiten und/oder Arbeitsplätze so zusammenfassen kann, dass man nicht für jeden einzelnen Arbeitnehmer und jeden einzelnen Arbeitsplatz eine gesonderte Gefährdungsbeurteilung machen muss.
Außerdem gibt es weitere „Objekte“, die bei einer Gefährdungsbeurteilung jeweils besonders betrachtet werden müssen, z. B.:
- Die Arbeitsstätte als Ganzes (§ 3 Abs. 1 Satz 1 ArbStättV)
- Einzelne Arbeitsmittel wie Maschinen, Geräte, Werkzeuge etc. (§ 3 Abs. 1 BetrSichV)
- Gefahrstoffe (§ 6 Abs. 1 GefStoffV)
- Persönliche Schutzausrüstungen – in der PSA-BV zwar nicht explizit erwähnt, ergibt sich aber z. B. aus deren § 2 Abs. 1 Ziff. 2, 3 und 4
Ggf. sind solche Gegenstände vor ihrer Inbetriebnahme mit einer gesonderten Gefährdungsbeurteilung zu prüfen. Es gibt also nicht „eine große“ Gefährdungsbeurteilung, sondern je nach Verhältnissen können auch einzelne Gefährdungsbeurteilungen für einzelne Sachverhalte oder Gegenstände durchgeführt werden.
Ich habe z. B. vor einigen Jahren die Beleuchtung in unseren Büroräumen auf LED umgestellt. Wir haben in den unterschiedlichen Räumen jeweils ein Lichtschienensystem, an dem man unterschiedliche Leuchten mit verschiedenen Leuchtmitteln installieren kann. Diese Umstellung haben wir durch eine Gefährdungsbeurteilung begleitet, bei der wir an jedem Arbeitsplatz geprüft haben, ob die Beleuchtung die jeweiligen – auch individuellen – Anforderungen so gut wie möglich erfüllt. Eine Kollegin z. B. hat eine recht starke Sehschwäche, und sie braucht deutlich bessere Beleuchtung als die anderen, die nicht so „im Rampenlicht“ sitzen wollten. Und natürlich muss man dabei Faktoren wie Blendung, Reflexionen und Farbwiedergabe beachten. Gefährdungen, die von den Platzverhältnissen oder dem Bürostuhl ausgehen können, muss man aber aus diesem Anlass natürlich nicht noch einmal prüfen.
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Ablauf der Gefährdungsbeurteilung
Man kann bei der Vorbereitung, Durchführung und Auswertung von Gefährdungsbeurteilungen neun Schritte unterscheiden:
Vorbereitung
Die ersten Schritte bereiten die Gefährdungsbeurteilungen vor.
Bestimmung der Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten
Am Beginn der Vorbereitung steht die Ermittlung, welche Tätigkeiten bzw. Arbeitsplätze bei der Gefährdungsbeurteilung betrachtet werden müssen.
In § 5 Abs. 2 ArbSchG steht:
Der Arbeitgeber hat die Beurteilung je nach Art der Tätigkeiten vorzunehmen. Bei gleichartigen Arbeitsbedingungen ist die Beurteilung eines Arbeitsplatzes oder einer Tätigkeit ausreichend.
5 Abs. 2 ArbSchG
Es müssen also die Tätigkeiten identifiziert und unterschieden werden. Außerdem müssen die Arbeitsbedingungen zumindest so weit beschrieben werden, dass man feststellen kann, ob an bestimmten Arbeitsplätzen gleiche oder zumindest gleichartige Arbeitsbedingungen bestehen, oder ob sich die Arbeitsbedingungen unterscheiden.
Um diesen ersten Schritt leisten zu können, braucht man
- eine Auflistung aller Arbeitsplätze und
- eine möglichst genaue und konkrete Beschreibung der Arbeitsaufgaben, die an den jeweiligen Arbeitsplätzen erledigt werden.
Die Nennung der Arbeitsplätze lässt erste Rückschlüsse auf die vorhandenen (technischen) Ressourcen und die möglichen Belastungen durch äußere Einflüsse zu. Die Tätigkeiten/Arbeitsaufgaben beschreiben die Anforderungen, die an die Arbeitnehmer gestellt werden.
Außerdem braucht man einen Überblick über die Arbeitsstätte und die Anordnung der Arbeitsplätze in der Arbeitsstätte. Man braucht ferner einen Überblick über die vorhandenen Anlagen, Maschinen, Geräte, Werkzeuge und anderen Betriebs- bzw. Arbeitsmittel. Darüber hinaus wird eine Auflistung der ggf. vorhandenen bzw. auftretenden Gefahrstoffe und Biostoffe benötigt.
Sinnvollerweise erstellt man so etwas wie eine „Matrix“ der Arbeitsplätze und Tätigkeiten. Damit bekommt man einen Überblick darüber, welche Arbeitsplätze und Tätigkeiten u. U. vergleichbar sind, so dass man sie zusammenfassen kann.
Es gibt nicht „eine“ Gefährdungsbeurteilung, die man als Standard verwendet könnte. Vielmehr muss man grundsätzlich für jede Tätigkeit und für jeden Arbeitsplatz ermitteln, welche Tätigkeiten, Arbeitsbedingungen, Arbeitsmittel etc. dort beurteilt werden müssen. Man kann, wie in § 5 Abs. 2 ArbSchG bestimmt, Arbeitsplätze zusammenfassen. Dazu muss man sie aber zuerst kennen und beschreiben, um entscheiden zu können, dass sie sich zusammenfassen lassen.
Damit man das Rad nicht immer neu erfinden muss, bietet es sich an, bestimmte Kategorien von Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Für diese wiederkehrenden Kategorien kann man jeweils Bausteine für die Gefährdungsbeurteilung für diese Elemente entwickeln. Wenn eine bestimmte Kategorie von Tätigkeit oder Arbeitsbedingung vorliegt, kann man dafür den bereits definierten Baustein heranziehen. Die Leitmerkmalmethode ist ein Beispiel für solch einen Baustein.
Beschreibung der Tätigkeiten, Ermittlung der Gefährdungsfaktoren
Die Tätigkeiten sollten jeweils genau betrachtet und beschrieben werden. Z. B. sollte bei der Tätigkeit „Heben“ beschrieben werden, was gehoben wird – Kisten, Säcke, Kartons ohne Griffe, Kartons mit Griffen, Rohre, Werkstücke, Motoren etc.
Beispiel 1: Eine Tätigkeit
- ist mit der Gefahr des Absturzes aus großer Höhe verbunden,
- birgt die Gefahr, sich am Werkstück zu schneiden,
- erfordert sehr hohe Konzentration,
- ist mit sehr großer Verantwortung verbunden,
- ist äußerst monoton,
- erfordert viel Platz auf dem Schreibtisch,
- erfordert, mehrere Prozesse gleichzeitig unter Kontrolle zu halten,
- beansprucht den Bewegungsapparat (z. B. schwer heben und dabei eine Körperdrehung durchführen),
- erfordert eine ungünstige Körperhaltung etc.
Aus diesen Beschreibungen kann man die sog. Gefährdungsfaktoren ableiten. Unter einem Gefährdungsfaktor versteht man eine Kategorie potentieller Gefährdungen. Es handelt sich also um die Faktoren, aus denen eine Gefährdung resultieren kann.
Man sollte auch erfassen,
- welche Maschinen, Geräte etc. an welchen Arbeitsplätzen (oder unabhängig von Arbeitsplätzen) genutzt werden,
- welche Gefahrstoffe verwendet werden,
- welche Biostoffe verwendet werden bzw. vorkommen.
Auch dafür müssen die Gefährdungsfaktoren ermittelt werden.
Beispiel: Eine Maschine
- erzeugt Erschütterungen (Vibrationen),
- verursacht Lärm,
- kann Extremitäten schneiden, quetschen oder klemmen,
- emittiert giftige Stoffe, z. B. Gase, Dämpfe oder Feinstäube.
Beispiel: Ein Gefahrstoff
- ist ätzend,
- ist akut toxisch,
- ist chronisch toxisch,
- ist erbgutverändernd,
- ist karzinogen etc.
Beispiel: Ein Stuhl
- kann umkippen,
- kann wegrollen,
- ermöglichst dynamisches Sitzen oder erfordert eine starre Körperhaltung,
- wird als bequem oder unbequem empfunden,
- lässt sich gut reinigen oder ist unhygienisch etc.
Für alle Objekte, die man im ersten Schritt ermittelt hat (also Tätigkeiten, Arbeitsplätze, Maschinen, Anlagen, Werkzeuge, aber auch die Arbeitsstätte oder den Raum an sich etc.), werden die Gefährdungsfaktoren festgehalten. Sie sind Grundlage der Gefährdungsbeurteilung.
In § 5 Abs. 3 ArbSchG wird aufgezählt, welche Gefährdungsfaktoren der Gesetzgeber als jedenfalls relevant vorgibt:
- die Gestaltung und die Einrichtung der Arbeitsstätte und des Arbeitsplatzes,
- physikalische, chemische und biologische Einwirkungen,
- die Gestaltung, die Auswahl und den Einsatz von Arbeitsmitteln, insbesondere von Arbeitsstoffen, Maschinen, Geräten und Anlagen sowie den Umgang damit,
- die Gestaltung von Arbeits- und Fertigungsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitszeit und deren Zusammenwirken,
- unzureichende Qualifikation und Unterweisung der Beschäftigten,
- psychische Belastungen bei der Arbeit.
Damit hat man eine erste Orientierung, welche Faktoren man bei einer Gefährdungsbeurteilung beachten muss.
Berufsgenossenschaften und die BAUA veröffentlichen Listen von Gefährdungsfaktoren. Diese Listen erheben aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Gefährdungsfaktoren werden wiederum in Gruppen zusammengefasst. Die BAUA z. B. nennt folgende Gruppen von Gefährdungsfaktoren:
- Mechanische Gefährdungen,
- Elektrische Gefährdungen,
- Gefahrstoffe,
- Biologische Arbeitsstoffe,
- Brand- und Explosionsgefährdungen,
- Thermische Gefährdungen,
- Gefährdungen durch spezielle physikalische Einwirkungen,
- Gefährdungen durch Arbeitsumgebungsbedingungen,
- Physische Belastung/Arbeitsschwere,
- Psychische Faktoren,
- Sonstige Gefährdungen.
Diese Kategorien dienen dazu, sich zu orientieren und eine Anregung zu erhalten, auf welche Faktoren man bei den unterschiedlichen Tätigkeiten, Arbeitsmitteln, Räumlichkeiten und anderen Objekten, die Gegenstand der Beurteilung sind, achten sollte.
Man wird diese Ermittlung nicht am „grünen Tisch“ durchführen können. Vielmehr muss man sich schon bei diesem Schritt die Arbeitsstätte, Arbeitsplätze, Tätigkeiten, Maschinen etc. anschauen, um sie beschreiben zu können.
Bestimmte Gefährdungsfaktoren sind „Standard“, man kann sie für alle gleichartige Objekte immer als relevant annehmen:
- Platzverhältnisse an den Arbeitsplätzen und in der Arbeitsstätte,
- Fluchtwege, Notausgänge, Brandschutzeinrichtungen bei der Arbeitsstätte,
- Lärm, Lichtverhältnisse, Temperaturen und Raumklima bei allen Arbeitsplätzen,
- psychische Belastungsfaktoren bei allen Arbeitnehmern und Tätigkeiten.
Hilfreich ist, in einschlägigen Vorschriften, also z. B. der ArbStättV, der BetrSichV, der GefStoffV nach Faktoren zu suchen, die zu beachten sind. Die ArbStättV nennt im Anhang z. B.:
- Konstruktion und Festigkeit von Gebäuden,
- Abmessungen von Räumen, Luftraum,
- Absturz und herabfallende Gegenstände, Betreten von Gefahrenbereichen
- Beleuchtung und Sichtverbindung
- Raumtemperatur
- Lüftung
- Lärm
und etliches mehr.
Ebenso sollte man nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen (z. B. ASR, TRBS, TRGS etc.) suchen, die ggf. Gefährdungsfaktoren benennen.
Helfen können auch Normen, z. B. ISO oder EN:
- Die Unternormen der ISO EN 9241 dienen der Ermittlung der Faktoren bei der Bildschirmarbeit,
- die ISO 10075 beschreibt Kriterien für die Beurteilung psychischer Belastungen,
- die BS OHSAS 18001 (bald: ISO 45001) unterstützt bei der Beschreibung von Arbeitsschutzprozessen,
- eine Vielzahl von Normen gilt z. B. für elektrische Geräte und Komponenten, Druckbehälter, persönliche Schutzausrüstungen etc.
Stand Oktober 2019: In Deutschland gelten 2.838 Normen mit Bezug zur Ergonomie (Quelle: https://nora.kan-praxis.de/ergonora).
Die meisten Berufsgenossenschaften stellen Dokumente bereit, an denen man sich bei den Gefährdungsbeurteilungen orientieren kann. Sie sind aber nicht mehr als eine Orientierungshilfe für Gefährdungsfaktoren, noch längst keine fertigen Gefährdungsbeurteilungen.
Außerdem werden in diesen Vorlagen keine Maßnahmen genannt. Die muss man dann schon selbst entwickeln. Als Orientierungshilfe für die Gefährdungsfaktoren eignen sich diese Vorlagen aber durchaus.
Die meisten BGen verwenden die Kategorisierung der Gefährdungsfaktoren, wie sie die BAUA vorschlägt (s. oben). Andere BGen gruppieren die Faktoren anders, z. B.
- Grundlegende organisatorische Faktoren
- Gefährdung durch Arbeitsplatzgestaltung
- Gefährdung durch ergonomische Faktoren
- Mechanische Gefährdung
- Elektrische Gefährdung
- Gefährdung durch Stoffe
- Gefährdung durch Brände/Explosionen
- Biologische Gefährdung
- Gefährdung durch spezielle physikalische Einwirkungen
- Psychische Belastungsfaktoren
- Sonstige Gefährdungs- und Belastungsfaktoren
Innerhalb der „Kategorien“ von Gefährdungen werden in den Empfehlungen und Checklisten einzelne typische Fälle von Gefährdungen genannt, z. B.
Mechanische Gefährdungen können ausgehen von (Quelle: BAUA):
- kontrolliert bewegten ungeschützten Teilen, die frei zugänglich sind und zum Beispiel Quetschstellen, Scherstellen, Schneid- und Stichstellen, Einzug- und Fangstellen sowie Stoßstellen bilden,
- Oberflächen wie Ecken, Kanten, Spitzen, Schneiden, Oberflächen mit hohen Oberflächenrauhigkeiten,
- mobilen Arbeitsmitteln, zum Beispiel im Zusammenhang mit Fernsteuerungen, Leitsystemen, rückwärts Fahren, Fahren mit eingeschränkter Sicht, auf unbefestigtem Untergrund oder mit schwerpunktverändernder Last.
- unkontrolliert bewegten Teilen, wie umstürzende, rollende, gleitende, oder herabfallende Teile oder sich lösende, berstende und wegfliegende Teile und unter Druck herausspritzende Medien oder herausgeschleuderte Medien beziehungsweise Arbeitsgut,
- rutschigen Oberflächen, Stolperstellen und
- der Möglichkeit des Absturzes von Personen auf eine tiefer gelegene Fläche oder einen Gegenstand.
Man kann sich auch an Normen orientieren, z. B. bei mechanischen Gefährdungen:
- Mechanische Gefährdungen im Allgemeinen (783 Normen),
- Quetschen, Einklemmen (73 Normen),
- Scheren (32 Normen),
- Schneiden (123 Normen),
- Reiben (23 Normen),
- Stürzen, Rutschen, Stolpern, Fallen (87 Normen),
- Stoßen, Durchstoßen, Stechen, Durchstechen (77 Normen),
Dies ist aber, wie erwähnt, nur eine Orientierung. Manche Themen, die durchaus relevant sein können (z. B. Gebrauchstüchtigkeit von Software) gehen in dieser Liste etwas unter. Deshalb sollte man für den Betrieb unbedingt eigene Listen von Gefährdungsfaktoren entwickeln, die für den jeweiligen Betrieb typisch sind.
Festlegung der Prüfkriterien
In diesem Schritt sollte man versuchen, für jeden Gefährdungsfaktor eine möglichst messbare, jedenfalls aber identifizierbare Größe zu bestimmen. Das dient bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung dazu, zu ermitteln, ob eine Gefährdung bestehen kann oder nicht.
Die Gefährdungsbeurteilung soll ja dreierlei leisten: Mit ihr soll erstens ermittelt werden, ob überhaupt eine Gefährdung bestehen kann. Die Handhabung von Lasten z. B. ist immer eine Gefährdung. Das Sitzen auf einem Stuhl ist ebenfalls immer eine Gefährdung. Eine Maschine mit bewegten Teilen ist ebenfalls immer eine Gefährdung. Der Umgang mit Gefahrstoffen ist ebenfalls immer eine Gefährdung etc. Für diesen ersten Zweck würde es genügen, eine vollständige Liste der potentiellen Gefährdungsfaktoren abzuarbeiten und zu schauen, welche dieser Gefährdungsfaktoren am Arbeitsplatz, bei der Tätigkeit, an der Maschine etc. vorhanden sind. Damit kennt man aber die Ausprägung dieser Gefährdung noch nicht, also das Risiko, das aus der Gefährdung auch eine Gefahr werden kann.
Zweitens soll die Gefährdungsbeurteilung die Gefährdung nicht nur erkennen, sondern sie auch beurteilen (sonst hieße sie ja Gefährdungserkennung und nicht Gefährdungsbeurteilung). Es muss als möglich sein, zu erkennen, wie erheblich die Gefährdung ist, wie groß also die Gefahr ist, die von der Gefährdung ausgehen kann. Dazu muss man aber so etwas wie eine Messgröße haben, gegen die man prüfen kann. Dass von der Handhabung von Lasten immer eine Gefährdung ausgeht ist das eine. Aber wie erheblich ist die Gefährdung? Ist sie so erheblich, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Gefahr für die Gesundheit der Arbeitnehmer zu rechnen ist? Das muss man ermitteln, z. B. messen oder dergl.
Und drittens soll die Gefährdungsbeurteilung die Informationen liefern, anhand derer man entscheiden kann, ob und welche Maßnahmen erforderlich sind, um die Gefahr zu beseitigen oder zumindest soweit einzudämmen, dass das Risiko einer gesundheitlichen Beeinträchtigung wieder erträglich wird. Auch dazu braucht man nicht nur die Information „Gefährdung vorhanden ja/nein“, sondern man braucht zumindest qualitative, möglichst aber auch quantitative Informationen über den Umfang und die Intensität der Gefährdung.
Spätestens bei diesem Schritt sind deshalb die Vorschriften und Regeln wichtig, an denen man sich orientieren kann, also
- Verordnungen
- UVVen,
- ASR, TRBS, TRGF, TRLV und andere gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse,
- Normen,
- weitere Dokumente, z. B. Leitlinien der BG, Veröffentlichungen der BAUA etc.
Für jedes Prüfkriterium sollte festgelegt werden,
- ob es mit „ja/nein“ (z. B. „vorhanden/nicht vorhanden“) beantwortet werden kann,
- ob und wie es gemessen werden kann (und welches Hilfsmittel, z. B. Messgerät man braucht),
- ob es einen bestimmten Mindest- und/oder Höchstwert gibt.
Dort, wo ein Mindestwert erfüllt sein muss oder ein Höchstwert nicht überschritten werden darf, muss man den jeweiligen Wert festlegen. Das kann man meistens wieder anhand der Technischen Regeln, UVVen, Leitlinien, Normen, bei Gefahrstoffen oft auch anhand der GefStoffV tun.
Dort, wo ein Wert nicht gesetzlich vorgeschrieben ist, ist seine Festlegung eine betriebliche Regelung, sofern der Wert zur Erfüllung einer gesetzlichen Rahmenvorschrift benötigt wird. Also ist er Gegenstand der Mitbestimmung. Das geschieht aber noch nicht zu diesem Zeitpunkt, sondern gehört in der Regel zu den Maßnahmen, die man als Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung ggf. festlegt.
Beispiel: Wie viel Grundfläche benötigt ein Bildschirmarbeitsplatz?
- Gesetzliche Rahmenvorschrift: Nr. 1.1 (1) des Anhangs der ArbStättV.
- Empfehlung der BAUA (AWE 106, allerdings schon recht alt): Einzelbüro 8-10, Gruppenbüro 12-15, Großraumbüro 15 m²,
- ASR A1.2: „Zellenbüro“ (entspricht im Prinzip dem Einzelbüro bei den AWE 106 der BAUA) 8-10 m², im Großraumbüro 12-15 m²,
- DGUV Information 215-410: 8-10 m², im Großraumbüro 12-15 m² (Verweis auf ASR A1.2).
Beispiel: Was muss bei Butanon (Lösungsmittel, das z. B. in Industrietinten verwendet wird) gewährleistet sein? Genau genommen ist der erste Schritt der Gefährdungsbeurteilung, festzustellen, dass und an welchen Arbeitsplätzen bzw. für welche Tätigkeiten Butanon verwendet wird. Damit steht fest, dass es grundsätzlich eine Gefährdung gibt. Die muss dann aber beurteilt werden:
- Gesetzliche Rahmenvorschrift: GefStoffV
- Quelle: http://gestis.itrust.de
- Werden nur geschlossene Apparaturen verwendet?
- Absaugung an der Austrittsstelle vorhanden?
- Ist gute Belüftung (Absaug-Ventilation) gewährleistet?
- Wie hoch ist die maximale Konzentration in der Atemluft (empfohlener Grenzwert: 200 ppm)?
- Sind Atemmasken, Handschuhe verfügbar?
- Sind die Arbeitnehmer unterwiesen?
- Ist das Sicherheitsdatenblatt (mehrsprachig?) verfügbar?
- Werden ggf. zusätzliche Pausen ermöglicht?
Beispiel: Lärm in einem Lager
- Gesetzliche Rahmenvorschrift: LärmVibrArbschV
- Quelle: TRLV Lärm
- Wie hoch ist der durchschnittliche Lärmpegel?
- Wie hoch ist der maximale Lärmpegel?
- Für welchen Zeitraum (z. B. bezogen auf die normale Schichtdauer) wird der maximale Lärmpegel erreicht?
- Ist bei Lärm oberhalb von 80 dB(A) Gehörschutz verfügbar?
- Beträgt die Lärmbelastung maximal 85 dB(A)?
- Wird bei dauerndem Lärm (z. B. >80 db(A) über 3 Stunden/Tag) Gehörschutz als Otoplastik bereitgestellt?
Einige der hier genannten Kriterien sind genau genommen schon ein Vorgriff auf die ggf. erforderlichen Maßnahmen. Es schadet aber nichts, schon gewisse Schutzmaßnahmen, die in den Technischen Regeln etc. empfohlen werden, in die Gefährdungsbeurteilung mit aufzunehmen.
Das Ergebnis dieses Schrittes ist eine (hoffentlich) vollständige Liste
- der Arbeitsstätten, Tätigkeiten, Arbeitsplätze, Anlagen, Maschinen, Geräte, Gefahrstoffe etc. mit
- der jeweiligen Faktoren, die geprüft werden müssen und
- der Normen/Standards etc., gegen die geprüft wird.
Es ist schon jetzt sinnvoll, zu prüfen, ob für Arbeitnehmer mit besonderen Einschränkungen oder besonderen Anforderungen auch besondere Kriterien bzw. Werte zur Anwendung kommen müssen.
Das kann z. B. notwendig sein,
- bei behinderten Arbeitnehmern,
- bei älteren oder jugendlichen Arbeitnehmern,
- bei schwangeren Frauen (gem. § 10 MuSchG muss ohnehin bei jeder Gefährdungsbeurteilung die Frage berücksichtigt werden, ob besondere Einschränkungen bzw. besondere Schutzmaßnahme eingehalten werden müssen, wenn eine schwangere Frau diese Tätigkeit ausübt bzw. an diesem Arbeitsplatz arbeitet),
- bei Arbeitnehmern mit anderen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit oder Beeinträchtigungen, die noch keine Behinderung sind.
Es geht aber nicht nur darum, eine Prüf- bzw. Checkliste zu erstellen. Vielmehr sollte man versuchen, durch Fragestellungen möglichen Belastungen und Gefährdungen auf den Grund zu gehen und Möglichkeiten zu finden, ihnen zu begegnen. Dazu sind Fragen geeignet. Solche Fragen sollten als „W-Fragen“ formuliert werden:
- Wie kann eine Belastung durch zu langes Sitzen gemindert werden?
- Wodurch ist gewährleistet, dass der Arbeitnehmer den Stoff xxx nicht einatmet?
Außerdem ist sinnvoll, dass man subjektive Eindrücke abfragt. Bestimmte Kriterien kann man nur schwer messen, sie können nur von den Arbeitnehmern erfragt werden. Daher ist ein „Interview-Block“ in einer Gefährdungsbeurteilung immer sinnvoll.
Erfragt werden kann z. B.:
- ob die/der ArbeitnehmerIn weiß, welche Gefährdungen oder Gefahren an ihrem/seinem Arbeitsplatz bzw. bei ihrer/seiner Tätigkeit bestehen, und wie sie/er sie vermeiden kann, ob sie/er also gut unterwiesen wurde,
- ob sie/er sich über- oder unterfordert fühlt,
- ob die zu bewegenden Lasten ihr/ihm zu schwer sind,
- ob sie/er die Frequenz (Tonhöhe) von Lärm als besonders unangenehm empfindet,
- ob sie/er ein Flimmern des Bildschirms wahrnimmt,
- ob sie/er sich von seinem Vorgesetzten gut oder schlecht behandelt oder bestimmten anderen psychischen Belastungen ausgesetzt fühlt,
- ob sie/er bestimmte Symptome aufweist oder Gesundheitsbeschwerden hat,
- ob sie/er insgesamt eher zufrieden oder unzufrieden mit bestimmten Dingen ist.
Die Prüfkriterien sind insgesamt Gegenstand der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Deshalb sollte der Betriebsrat nicht versäumen, das Ergebnis dieses Schrittes kritisch zu prüfen, bevor er es freigibt. Idealerweise sind natürlich Betriebsratsmitglieder ohnehin von Beginn an daran beteiligt.
Jedenfalls kein sinnvoller Weg ist, einfach eine „Muster-Gefährdungsbeurteilung“ aus dem Internet zu beschaffen und die für alle Arbeitsplätze anzuwenden. Das genügt den Anforderungen an die sorgfältige Entwicklung der Kriterien, die an die Arbeitsplätze und Tätigkeiten angepasst sind, ganz sicher nicht.
Durchführung der Datenerhebung
Vor der eigentlichen Durchführung müssen noch die Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten bestimmt werden, an denen die Beurteilungen durchgeführt werden. Nicht jeder einzelne Arbeitsplatz muss beurteilt werden. Beurteilt werden sollte aber von jedem Typ von Arbeitsplatz, der bestimmte Eigenschaften oder Merkmale aufweist, zumindest eine bestimmte Anzahl.
Wie dies bestimmt wird, ist nicht gesetzlich geregelt, also mitbestimmungspflichtig.
Wenn in einem Büro z. B. 30 Arbeitsplätze grundsätzlich identisch ausgestattet sind, bedeutet das noch nicht, dass es genügt, nur einen davon zu beurteilen. Auch bei gleicher Einrichtung und Ausstattung können sich die Arbeitsplätze unterscheiden, z. B.
- hinsichtlich der Platzverhältnisse,
- hinsichtlich der Lichtverhältnisse (Verhältnis Tages-/Kunstlicht, Blendungen, Reflexionen – näher am Fenster, weiter vom Fenster entfernt),
- hinsichtlich der Temperatur, des Luftzugs und nicht zuletzt
- hinsichtlich der dort ausgeübten Tätigkeiten.
Also muss man auch bei diesen 30 Arbeitsplätzen unterscheiden, welche so weit übereinstimmen, dass man nur einen von ihnen zu untersuchen braucht, welche aber so unterschiedlich sind, dass verschiedene davon untersucht werden müssen. Darüber hinaus sind ja auch die Menschen, die an diesen Arbeitsplätzen arbeiten, unterschiedlich. Für den einen reicht der Platz, für den anderen, weil er sehr groß oder sehr voluminös ist oder im Rollstuhl sitzt, nicht. Der eine ist empfindlich gegen Lärm in hohen Frequenzen, der andere nimmt ihn gar nicht wahr etc.
Ebenso muss vorher geklärt werden, wer denn überhaupt die Gefährdungsbeurteilungen durchführt und wer daran beteiligt wird. Sinnvoll ist z. B., wenn ein Betriebsratsmitglied mit anwesend ist. Weniger sinnvoll ist oft die Anwesenheit des jeweiligen Vorgesetzten, jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer befragt wird. Es besteht immer die Gefahr, dass er sonst nicht ehrlich Auskunft gibt.
Grundsätzlich ist die Durchführung aber Sache des Arbeitgebers (in § 5 Abs. 1 ArbSchG steht „Der Arbeitgeber hat […] zu ermitteln“). Das ist also nicht Gegenstand der Mitbestimmung. Der Arbeitgeber kann auch eine fachkundige andere Person mit der Durchführung beauftragen (§ 13 Abs. 2 ArbSchG) – auch das ist nicht Gegenstand der Mitbestimmung. Die Person muss aber fachkundig sein. Ob das z. B. bei Vorgesetzten immer gewährleistet ist, kann man in der Regel bezweifeln.
Die Beurteilungen sollten in jedem Fall im laufenden Betrieb durchgeführt werden, auch wenn es stört. Andernfalls wird man die tatsächlichen Belastungsfaktoren (z. B. Lärm, Temperatur, Störquellen) nicht ermitteln können. Die Festlegung des Zeitpunkts der Gefährdungsbeurteilung ist ein wichtiges Element der Vorbereitung und fällt daher unter die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG.
Die Beurteilungen werden sorgfältig und unter Beaufsichtigung des Betriebsrats durchgeführt. Wenn der Arbeitgeber kooperationswillig ist, wird er den Betriebsrat bei der Durchführung auch beteiligen. Man sollte sich dafür Zeit nehmen und sich nicht vornehmen, mehr als fünf oder sechs Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten an einem Tag zu schaffen.
Auswertung und Konsequenzen der Gefährdungsbeurteilung
Nachdem die Datenerhebung durchgeführt wurde, ist die Gefährdungsbeurteilung nicht etwa erledigt – sie fängt eigentlich erst jetzt richtig an, weil jetzt die eigentliche Beurteilung der Gefährdungen erfolgt.
Feststellung der Defizite und Bestimmung von Schutzzielen
Nachdem die Datenerhebung durchgeführt wurde, muss man sie auswerten. Es geht ja nicht darum, zu dokumentieren, was falsch ist (damit man im Falle einer Erkrankung weiß, woran es gelegen hat), sondern darum, Gefährdungen zu erkennen, die Gefahr, die daraus entstehen kann, einzuschätzen und sie zu beseitigen.
Man wird kaum einen Arbeitsplatz, eine Tätigkeit, eine Arbeitsstätte oder eine Maschine etc. finden, die bei der Gefährdungsbeurteilung vollkommen perfekt abschneidet. Wichtig ist, zu klären, ob ein Defizit so erheblich ist, dass etwas passieren muss, was passieren muss und wie schnell es zu passieren hat.
Aus der Datenerhebung kann man ermitteln, ob eine grundsätzliche Gefährdung besteht. Man stellt z. B. fest,
- dass bestimmte Tätigkeiten ausgeführt werden, die grundsätzlich eine Gefährdung darstellen (z. B. Handhabung von Lasten),
- dass per Norm oder in einer technischen Regel gesetzte Mindestwerte unter- oder Höchstwerte überschritten werden,
- dass von Maschinen eine Gefährdung ausgeht, weil sich Teile an ihnen unkontrolliert bewegen,
- dass von Gefahrstoffen eine Gefährdung ausgeht,
- dass Arbeitnehmer über besondere Belastungen klagen etc.
Wenn eine Gefährdung ermittelt wurde, muss man prüfen,
- wie groß die Gefahr ist, dass aus dieser Gefährdung eine Fehl- oder Überbeanspruchung, eine Gesundheitsgefahr oder eine Unfallgefahr entsteht,
- wie groß der dann zu erwartende Schaden ist,
- wie dringend also Maßnahmen durchgeführt werden müssen.
Es wird also ermittelt, ob aus der grundsätzlichen Gefährdung auch eine konkrete Gefahr resultieren kann. Dazu muss eine Risikoanalyse durchgeführt werden, die zwei Dimensionen umfasst:
- Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund der Gefährdung eine Schädigung eintreten kann und
- wie erheblich wird die Schädigung voraussichtlich sein?
Ist das Risiko gering (z. B. weil kein gesundheitlicher Schaden zu erwarten ist oder die Wahrscheinlichkeit des Eintritts gegen Null tendiert), kann man geringere Anforderungen an den Schutz stellen.
Ist das Risiko aber hoch, müssen dringend Maßnahmen durchgeführt werden, und sie müssen das Risiko einer gesundheitlichen Gefährdung wirksam beseitigen.
Man muss also entschieden,
- ob Maßnahmen erforderlich sind,
- wie dringend es ist, ggf. Maßnahmen durchzuführen und
- ob ggf. vorläufige Maßnahmen durchgeführt werden können, um eine unmittelbar drohende Gefährdung vorerst abzuwenden.
Wichtig ist in diesem Schritt, das Schutzziel zu bestimmen. Unter einem Schutzziel versteht man den Zustand, den man durch die Maßnahme künftig verwirklichen will. Das Schutzziel sollte so bestimmt werden, dass sein Erreichen messbar ist. Maßnahmen werden in diesem Schritt noch nicht bestimmt. Schutzziele können z. B. sein:
- Minderung der Lärmdauerlast um 10 dB(A) – also Halbierung der Lärmdauerlast oder
- Minderung der Lärmlast auf andauernd max. 50 dB(A) und in der Spitze höchstens 60 dB(A),
- Verbesserung der Platzverhältnisse, so dass in jede Richtung wenigstens 1,20 m freie Bewegungsfläche besteht,
- Minderung der Beanspruchung durch dauerndes Sitzen auf max. 75% der Arbeitszeit,
- Minderung der Belastung durch Heben.
Sinnvoll ist es, wenn man auch hier eine Zielgröße bestimmt, also nicht nur eine „qualitative“, sondern auch quantitative Verbesserung als Ziele bestimmt werden. Der letzte eben genannte Punkt macht es deutlich – um wie viel soll denn die Belastung durch Heben gemindert werden? Bei der Handhabung von Lasten z. B. kann man die Leitmerkmalmethode anwenden und als Zielvorgabe bestimmen, dass keinesfalls ein Punktwert von 15 überschritten werden darf.
Entwicklung von Maßnahmen zur Beseitigung von Defiziten und zur Verwirklichung der Schutzziele
In diesem Schritt ermittelt man,
- welche Optionen zur Verfügung stehen,
- welche Maßnahmen sofort ergriffen werden können, wenn unmittelbare Abhilfe nötig ist,
- welche Maßnahmen mittel- und langfristig dazu beitragen, die Gefährdung ganz zu beseitigen,
- welche Rahmenbedingungen bestehen, z. B. Platzverhältnisse, technische Anforderungen etc.
Hier geht es also darum, Handlungsoptionen zu entwickeln und Möglichkeiten zu finden, wie festgestellte Gefährdungen beseitigt oder zumindest so weit gemindert werden, dass die Gefährdung auf ein unkritisches Maß reduziert wird.
Das ist einer der spannendsten, aber auch der schwierigeren Teile der Gefährdungsbeurteilung. Oft wird hier nach Standardformeln gesucht. Die lassen sich aber nicht immer so einfach finden, weil eben Menschen und die Verhältnisse, unter denen sie leben und arbeiten, nicht standardisiert sind.
Und man darf nicht vergessen: Die drei Faktoren „Anforderungen“, „Ressourcen“ und „Äußere Einflüsse“ beeinflussen einander, man muss als das ganze „System Arbeit“ zu beeinflussen versuchen. Und es muss natürlich wieder das „STOP“-Prinzip bedacht werden.
Ein Beispiel: Es wird eine Gefährdung aufgrund der Handhabung von Lasten festgestellt, und diese Gefährdung ist konkret genug, um Maßnahmen erforderlich zu machen (z. B. wurde mit der Leitmerkmal-Methode festgestellt, dass der ermittelte Index durchschnittlich über 40 liegt.) Also müssen Maßnahmen entwickelt werden. Denkbare Lösungen sind z. B.:
- Die einzelnen Lasten zu verringern, also das Gewicht der einzelnen Lasten zu reduzieren (Anforderungen),
- die Bewegungsabläufe zu vereinfachen, z. B. Körperdrehungen zu vermeiden (Anforderungen oder – wenn die Platzverhältnisse verändert werden –, auch Ressourcen),
- das Arbeitstempo zu verringern (Anforderungen),
- die Tätigkeit so zu organisieren, dass zwischen be- und entlastenden Tätigkeiten gewechselt wird (Anforderungen),
- die Belastungen für einzelne Arbeitnehmer dadurch zu reduzieren, dass die Tätigkeiten häufiger gewechselt, die einzelnen Arbeitnehmer z. B. häufiger abgelöst werden (Anforderungen),
- Hebehilfen zu beschaffen (Ressourcen),
- höhenverstellbare Packtische anzuschaffen (Ressourcen),
- besser handhabbare Kisten oder Kartons einzuführen (Ressourcen),
- stabilen und gleichzeitig federnden Fußboden (z. B. Parkett) installieren, um die Belastungen für Gelenke zu verringern (Ressourcen),
- für besseres Raumklima zu sorgen (Ressource bzw. äußere Bedingungen),
- die Arbeitnehmer besser in der richtigen Handhabung von Lasten zu unterweisen (Ressourcen).
Dies ist nur eine kleine Auswahl. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt.
Ein weiteres Beispiel: Eine Maschine lärmt und vibriert. Es wird festgestellt, dass Maßnahmen zur Beseitigung oder zumindest weitestgehenden Minderung der Beeinträchtigungen erforderlich sind. Denkbare Lösungen sind z. B.:
- Die Maschine durch eine neue, leise und vibrationsfrei laufende Maschine zu ersetzen,
- die Maschine umzubauen (z. B. durch gegenläufige Massen, bessere Lager, Änderungen von Bewegungs- oder Umdrehungsgeschwindigkeiten etc.), um Lärm und Vibrationen soweit wie möglich zu reduzieren,
- die Maschine abzukapseln,
- die Maschine auf Federbeine und/oder schwimmenden Estrich zu stellen, um sie von der Gebäudestruktur zu entkoppeln,
- die Maschine nur dann laufen zu lassen, wenn sie unbedingt benötigt wird,
- die Arbeitnehmer, die an der Maschine arbeiten, häufiger abzulösen bzw. ihnen mehr Pausen zu ermöglichen,
- Persönliche Schutzausrüstung, also Gehörschutz etc. bereitstellen.
Weiteres Beispiel:
In einem Büro arbeiten 25 Arbeitnehmer aus drei Abteilungen auf 200 m² verteilt. Die drei Abteilungen sind Einkauf, Vertrieb und Buchhaltung. In der Buchhaltung wird mit SAP FI/CO und anderen Apps aus dem ERP-System von SAP gearbeitet, die Bildschirme haben eine Diagonale von 19 oder 21 Zoll. Die Software ist nur teilweise an die Prozessbedürfnisse im Betrieb angepasst, weil andere Konzernunternehmen auch mit SAP arbeiten und der Arbeitgeber einheitliche Prozesse verwirklichen wollte. Deshalb werden in der Regel nur ca. 70% der Datenfelder, die in Eingabemasken enthalten sind, benötigt. Die Belege, die verarbeitet werden, sind nicht normiert, was bedeutet, dass die Angaben, die in die Dialogmasken eingetragen werden müssen, zuerst auf den Belegen gesucht werden müssen. Der Schallpegel beträgt – insbesondere weil die KollegInnen aus dem Vertrieb viel und laut telefonieren, fast durchgehend über 50 dB(A), in der Spitze bis zu 70 dB(A).
Die Fehlerrate ist relativ hoch, der Abteilungsleiter geht mit solchen Fällen eher autoritär um und veranlasst relativ häufig den Ausspruch von Abmahnungen. Gegen Nachmittag steigt die Fehlerrate deutlich an.
Die Tische sind 1,60 x 0,80 m² groß und nicht höhenverstellbar, die Stühle haben auch schon mal bessere Zeiten gesehen. Die künstliche Beleuchtung besteht aus Raster-Deckenleuchten mit Leuchtstoffröhren.
Die Arbeitnehmer klagen über Konzentrationsstörungen und Kopf- sowie Nackenschmerzen. Der Krankenstand ist fast doppelt so hoch wie im Mittel der Verwaltung.
Gefährdungen gehen also von gleich mehreren Faktoren aus:
- Lärm,
- Platzverhältnisse,
- Bildschirme,
- Beleuchtung,
- Software,
- Monotonie,
- Prozessgestaltung,
- Führungsqualität.
In diesem Fall sollte man alle Gefährdungen angehen, denn offensichtlich gehen von den Gefährdungen Beeinträchtigungen der Gesundheit aus. Denkbar wäre u. a.:
- mehr Platz zu schaffen, um schalldämmende Maßnahmen zu ermöglichen,
- Vertrieb und Buchhaltung in getrennten Räumen unterzubringen, um die Lärmquelle von der Buchhaltung zu trennen,
- Tische und Stühle gegen ergonomischere Modelle auszutauschen,
- bessere, jedenfalls aber größere Bildschirme anzuschaffen,
- die Beleuchtung zu verbessern,
- die Prozesse so zu gestalten, dass Monotonie vermieden wird,
- die Software so anzupassen, dass sie die Prozesse besser abbildet,
- die Mitarbeiter in der Verwendung der Software besser zu schulen,
- die Führungskraft durch Schulung oder andere Maßnahmen dazu zu bringen, ihr Führungsverhalten zu verbessern.
Man sollte versuchen, nicht nur eine Lösung als denkbar zu akzeptieren, sondern ein möglichst breites Spektrum an Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Vor allem sollte man an dieser Stelle noch keine Vorbehalte im Sinne von „Das ist zu teuer“ oder „Das geht sowieso nicht“ zu akzeptieren. Gutes Management heißt, Optionen zu schaffen, nicht, Optionen zu verhindern.
Auswahl der Lösung
Wenn die Schutzziele bestimmt und Lösungsmöglichkeiten entwickelt wurden, wird die Lösungsmöglichkeit ausgewählt, die am besten geeignet ist, die Schutzziele zu verwirklichen.
Hier sind Meinungsverschiedenheiten beinahe unvermeidlich: Meistens sind Maßnahmen, die Gefährdungen wirkungsvoll und auf Dauer beseitigen, teurer als Maßnahmen, die weniger wirksam sind.
Insbesondere wird der Streit um Verhältnis- oder Verhaltensprävention geführt werden. Die Verhältnisse zu ändern ist in der Regel aufwendiger, als auf Arbeitnehmer einzuwirken, damit sie ihr Verhalten ändern.
Einen Fahrweg zu verbreitern und durch Leitplanken abzusichern, ist teurer als die Arbeitnehmer anzuweisen, den Gabelstaplern aus dem Weg zu gehen bzw. die Staplerfahrer anzuweisen, vorsichtig zu fahren und auf Fußgänger besonders zu achten. Einen weiteren Handlauf für eine Treppe zu montieren, kostet mehr Geld, als Hinweisschilder „Handlauf verwenden“ an die Wand des Treppenhauses zu kleben (und was geschieht, wenn sich zwei Personen auf der Treppe begegnen, die nur einen Handlauf hat?). Eine Software so anzupassen, dass die den Prozess genau abbildet und Fehler gar nicht mehr zulässt ist ein größerer Aufwand, als die Benutzer darüber zu informieren, dass sie an dieser und jener Stelle darauf achten müssen, bestimmte Dialogschritte in bestimmter Weise durchzuführen, um Fehler zu vermeiden. Eine Maschine umzubauen, damit sie leiser läuft, oder sie zumindest einzukapseln, verursacht höhere Kosten als „Mickey Mäuse“ (und die sind wiederum billiger als Gehörschutz-Otoplastiken).
Und natürlich wird neben dem Kostenargument auch immer das Totschlagsargument „geht nicht“ verwendet. Wenn der Platz nicht reicht, um die Arbeitnehmer weiter auseinander zu setzen und/oder schalldämmende Zwischenwände aufzustellen, wird der Arbeitgeber natürlich darauf hinweisen, dass er den Platz nun einmal nicht hat. Die vorhandenen Ressourcen sind aber (jedenfalls in der Regel) nicht naturgesetzlich bestimmt, sondern vom Arbeitgeber bereitgestellt. Art und Umfang der bereitgestellten Ressourcen lassen sich demnach ändern – das ist nur eine Frage der Kosten.
Gerade hier ist das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wichtig. Er hat dann über Maßnahmen zum Gesundheitsschutz mitzubestimmen, wenn Ergebnis einer Gefährdungsbeurteilung ist, dass eine gesundheitliche Gefährdung konkret genug ist, um Maßnahmen erforderlich zu machen.
Wichtig ist bei der Entscheidung, welche Maßnahmen durchgeführt werden, vor allem das „STOP“-Prinzip, das ich hier beschrieben habe. Die Regeln dieses Prinzips sind aus § 4 ArbSchG abgeleitet.
Umsetzung der Lösung
Wenn eine Lösung ausgewählt wurde, muss natürlich sichergestellt werden, dass sie auch umgesetzt wird. Das sollte sich eigentlich von selbst verstehen, ist aber nach meiner Erfahrung alles andere als selbstverständlich. Deshalb sollte zu jeder Lösung auch ein Termin bestimmt werden, bis zu dem sie umgesetzt wird.
Es empfiehlt sich für einen Betriebsrat, mit dem Arbeitgeber in einer schriftlichen Vereinbarung festzuhalten, welche Maßnahmen durchgeführt werden. In diesem Fall kann der Betriebsrat nötigenfalls im Wege des arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahrens (§ 23 Abs. 3 BetrVG) durchsetzen, dass so verfahren wird, wie das vereinbart wurde.
Wirkungskontrolle
Wurden die Maßnahmen durchgeführt, muss man prüfen, ob sie das gewünschte Ergebnis auch verwirklicht haben.
Man muss also erneut prüfen, ob die Gefährdung jetzt noch besteht, oder ob sie beseitigt oder zumindest so weit eingedämmt wurde, dass sie akzeptabel ist. Dazu wird man in den meisten Fällen die Datenerhebung der Gefährdungsbeurteilung (Schritt 4) erneut durchführen – evt. nicht in vollem Umfang, sondern auf die Gefährdungen beschränkt, die durch die jeweiligen Maßnahmen beseitigt werden sollten.
Natürlich muss man ebenso den 5. Schritt wiederholen, also abschätzen, ob eine Gefährdung besteht, ein ggf. festgestelltes Defizit oder ein anderer Mangel beseitigt wurde und das Risiko, dass eine Schädigung der Gesundheit von Arbeitnehmern unter den jetzt geänderten Bedingungen noch auftreten kann, erneut durchführen.
Stellt man fest, dass die Maßnahme nicht die gewünschte Wirkung erreicht hat, muss man natürlich die Schritte 7 und 8 erneut durchführen – ggf. wird dieser Zyklus so lange durchlaufen, bis die Gefährdung wirksam beseitigt oder zumindest auf ein akzeptables Maß eingedämmt wurde.
Erfahren Sie mehr:
In diesem Seminaren behandeln wir die Themen dieser Seite ausführlich und mit praktischen Beispielen:
- Der wirkungsvolle Ausschuss für Arbeitsschutz – Teil I: Grundlagen
- Der wirkungsvolle Ausschuss für Arbeitsschutz – Teil II: Betriebssicherheitsverordnung, Arbeitsstättenverordnung & Co.
- Der wirkungsvolle Ausschuss für Arbeitsschutz – Teil III: Gefährdungsbeurteilungen richtig machen
Wiederholungen von Gefährdungsbeurteilungen
Wenn eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde und nach Durchlaufen des Zyklus‘ keine Gefährdung mehr besteht, waren die Gefährdungsbeurteilung und die Maßnahmen erfolgreich.
Allerdings muss das nicht auf Dauer so bleiben:
- Arbeitsbedingungen ändern sich schleichend,
- Maschinen nutzen sich ab, werden lauter, vibrieren mehr, Schutzvorrichtungen verlieren womöglich im Laufe der Zeit ihre Funktion,
- Leuchtmittel verlieren mit der Zeit an Leuchtkraft,
- Raumlufttechnische Anlagen verschmutzen,
- Prozesse ändern sich,
- die Arbeitnehmer werden älter etc.
Deshalb muss man von Zeit zu Zeit prüfen, ob Gefährdungen neu entstanden sind, bisher als ausreichend gering eingeschätzte Gefährdungen zugenommen haben, die Anforderungen an Arbeitnehmer sich geändert haben etc. Aus diesem Grund ist es notwendig, Gefährdungsbeurteilungen von Zeit zu Zeit zu wiederholen.
Es gibt keinen gesetzlich bestimmten Zyklus, in dem eine Gefährdungsbeurteilung wiederholt werden muss. Sicher ist allerdings, dass bei Einführung neuer Arbeitsmittel, Büroeinrichtung oder anderer Elemente der Arbeitsstätte auch ein neuer Anlass entstanden ist, erneut die Gefährdung(en) zu beurteilen.
Man sollte für die grundsätzlichen Gefährdungsbeurteilungen der Arbeitsstätte, der verschiedenen Arbeitsplätze, der Maschinen, Tätigkeiten etc. Zyklen bestimmen, in denen die Gefährdungsbeurteilungen jeweils wiederholt durchgeführt werden. Welcher Zyklus da angemessen ist, lässt sich allerdings nicht pauschal sagen.
- Wenn die Fluktuation unter den Arbeitnehmern sehr hoch ist, wird man Gefährdungsbeurteilungen über die Tätigkeiten und die Arbeitsbedingungen häufiger wiederholen müssen, als wenn die Belegschaften über längere Zeiträume unverändert sind.
- Wenn im Betrieb häufiger Prozesse geändert werden (Stichwort „Agilität“), dann muss man auch entsprechend häufig prüfen, ob die Prozesse – also die Anforderungen bzw. Tätigkeiten – möglicherweise zu Gefährdungen führen.
Als Faustformel eignen sich: Bei mehr oder minder konstanten Aufgabenstellungen, unveränderten Belegschaften und beibehaltenen Arbeitsmitteln sollte eine Gefährdungsbeurteilung nach ca. zwei Jahren erneut durchgeführt werden.
Weil es hierzu keine gesetzlichen Bestimmungen gibt, sollte der Betriebsrat darauf drängen, dass hierzu eine mitbestimmte Regelung vereinbart wird. In ihr sollten die Zyklen für regelmäßige Wiederholungen ebenso bestimmt werden wie die Anlässe, aus denen Gefährdungsbeurteilungen außerhalb der Zyklen durchgeführt werden.
Weitere gesetzliche Vorschriften über Gefährdungsbeurteilungen
Wie gesehen, ist in § 5 ArbSchG bestimmt, dass Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt werden. Dort werden in Abs. 3 Gefährdungsfaktoren benannt, die bei Gefährdungsbeurteilungen jedenfalls berücksichtigt werden müssen.
Aber auch in anderen Vorschriften zum Arbeits- und Gesundheitsschutz finden sich Anforderungen an die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen:
Gefährdungsbeurteilungen in der ArbStättV
In der ArbStättV wird in § 3 näher auf die Funktion der Gefährdungsbeurteilungen bei Arbeitsstätten und Arbeitsplätzen eingegangen. Dort wird klargestellt, dass zunächst die Arbeitsstätte insgesamt zu beurteilen ist (wie dies ja schon in § 5 Abs. 3 Nr. 1 ArbSchG klargestellt wird).
Wichtig ist, dass bei der Gefährdungsbeurteilung nicht nur „physische“ Gefährdungen zu ermitteln sind, sondern dass insbesondere auch „die Auswirkungen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsabläufe in der Arbeitsstätte zu berücksichtigen“ sind. Das bedeutet: Auch die Prozesse (als Teil der Tätigkeiten) müssen bei der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden. Das ist ein häufiger Streitpunkt zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat: Arbeitgeber bestehen darauf, dass es im Rahmen ihres Direktionsrechtes doch allein ihre Angelegenheit sei, zu bestimmen, auf welche Art welche Aufgaben zu erledigen seien, und der Betriebsrat hier keine Mitbestimmungsrechte habe. Das ist zwar korrekt, aber dennoch ist auch bei der Festlegung der Arbeitsaufgaben und Arbeitsabläufe – also der Prozesse – zu prüfen, ob sich aus ungünstigen Prozessbeschreibungen, unklaren oder fehlerträchtigen Arbeitsanweisungen etc. Gefährdungen der Sicherheit oder Gesundheit für die Arbeitnehmer ergeben können. Ist das der Fall, kann durchaus eine Maßnahme zur Umgestaltung solcher Prozesse erforderlich sein, und dann wird sie auch zum Gegenstand der Mitbestimmung.
Besonderes Augenmerk wird in der ArbStättV seit Dezember 2016 auf die Beurteilung der Bildschirmarbeitsplätze gelegt. Mit Inkrafttreten der ArbStättV im Dezember 2016 ist die BildschArbV außer Kraft getreten, und wesentliche Vorschriften über die Gestaltung der Bildschirmarbeit finden sich jetzt in Ziff. 6 im Anhang der ArbStättV.
In § 3a Abs. 1 ArbStättV wird aber auch klargestellt: Wenn der Arbeitgeber die Regeln einhält, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales bekanntgegeben werden (gemeint sind die Technischen Regeln für Arbeitsstätten – die ASRen), kann er davon ausgehen, dass er die Anforderungen der ArbStättV jeweils erfüllt hat. Auch dies muss allerdings in einer Gefährdungsbeurteilung geprüft werden, und – wie bereits erwähnt – kann es durchaus sein, dass Schutzziele auch über die Mindestanforderungen, wie sie in den ASRen bestimmt sind, hinaus verwirklicht werden müssen. Das wäre ggf. durch eine Gefährdungsbeurteilung zu prüfen.
Auch in der ArbStättV wird in § 3 Abs. 2 noch einmal klargestellt, dass die Gefährdungsbeurteilung durch fachkundige Personen durchzuführen ist (und nicht z. B. „nebenbei“ vom Abteilungsleiter), und dass ihre Durchführung, die festgestellten Gefährdungen und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung zu dokumentieren sind (§ 3 Abs. 3 ArbStättV).
Gefährdungsbeurteilungen in der BetrSichV
Die BetrSichV gilt für alle Arbeitsmittel. Arbeitsmittel sind alle „Werkzeuge, Geräte, Maschinen oder Anlagen, die für die Arbeit verwendet werden“ (§ 2 Abs. 1 BetrSichV). Das geht also bei der Schere und dem Schraubendreher los und endet bei großtechnischen Chemieanlagen und Kraftwerken.
§ 3 BetrSichV verlangt, dass bereits vor der Verwendung von Arbeitsmitteln anhand einer Gefährdungsbeurteilung festgestellt werden muss, ob und welche Gefährdungen von der Verwendung des jeweiligen Arbeitsmittels ausgehen können, und welche Maßnahmen daraus abgeleitet werden.
§ 3 Abs. 1 BetrSichV verlangt, dass mit der Gefährdungsbeurteilung bereits bei der Anschaffung zu beginnen ist.
In der Praxis wird das natürlich schwierig – man wird kaum für jede Schere, jeden Cutter, jeden Schraubendreher vor der Anschaffung jeweils eine Gefährdungsbeurteilung durchführen können. Für Werkzeuge, Geräte oder Maschinen, von denen eine Gefährdung ausgehen kann, wird das aber dennoch erforderlich und auch angemessen sein.
Gefährdungsbeurteilungen in der GefStoffV
Auch die GefStoffV verpflichtet den Arbeitgeber, die Gefährdungen, die von Gefahrstoffen ausgehen können, sorgfältig zu beurteilen und erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer durchzuführen. Dies wird in § 6 und § 7 der GefStoffV sehr ausführlich dargelegt.
Gefährdungsbeurteilungen in der LasthandhabV, der PSA-BV und anderen Verordnungen
Die LasthandhabV enthält – entgegen anders lautenden Gerüchten – keine Gewichtsgrenzen. Sie wären auch sinnlos, weil ja nicht allein das Gewicht einer Last das Kriterium ist, das für die Gefährdung der Sicherheit und Gesundheit maßgeblich ist.
Vielmehr bestimmt die LasthandhabV in § 2 Abs. 2, dass gem. der in ihrem Anhang genannten Kriterien zu beurteilen ist, ob und welche Gefährdung für Arbeitnehmer aus der Handhabung von Lasten entstehen kann, und sie verpflichtet die Arbeitgeber, die erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung dieser Gefährdungen durchzuführen.
Auch die LärmVibrationsArbSchV, die OStrV, die BioStoffV bestimmen jeweils, dass und mit welchen Zielen Gefährdungsbeurteilungen durchzuführen sind.
In manchen anderen Verordnungen (z. B. der PSA-BV, die für die Verwendung persönlicher Schutzausrüstungen gilt) werden Gefährdungsbeurteilungen nicht explizit erwähnt. Das bedeutet aber nicht, dass nicht auch bei der Einführung und Verwendung von persönlichen Schutzausrüstungen Gefährdungsbeurteilungen erforderlich sind – es wird dort schließlich in § 2 Abs. 1 Nr. 2 verlangt, dass persönliche Schutzausrüstungen „Schutz gegenüber der zu verhütenden Gefährdung bieten, ohne selbst eine größere Gefährdung mit sich zu bringen“. Das wird man ohne eine Gefährdungsbeurteilung kaum feststellen können.
Beteiligung des Betriebsrats
Mitbestimmungsrecht
Das BAG hat das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Gefährdungsbeurteilungen in gefestigter Rechtsprechung immer wieder bestätigt. Im vermutlich wichtigsten Urteil in diesem Zusammenhang hat der 1. Senat der BAG einige Themen genannt, die im Rahmen der Mitbestimmung zu regeln sind:
[…] welche Tätigkeiten beurteilt werden sollen, worin die mögliche Gefahr bei der Arbeit besteht, woraus sie sich ergibt und mit welchen Methoden und Verfahren das Vorliegen und der Grad einer solchen Gefährdung festgestellt werden sollen.BAG 1 ABR 4/03 vom 08.06.2004
Wir haben gesehen, wie wichtig Gefährdungsbeurteilungen sind, um
- festzustellen, ob Gefährdungen für die Sicherheit oder Gesundheit der Arbeitnehmer bestehen,
- zu bestimmen, ob und welche Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer erforderlich sind und
- zu prüfen, ob diese Maßnahmen auch erfolgreich sind, die Gefährdungen also wirksam beseitigt haben.
Da das Engagement für die Gesundheit der Arbeitnehmer eine der wichtigsten Aufgaben des Betriebsrats ist, sollte ein Betriebsrat also sehr sorgfältig darauf achten, dass er seine Mitbestimmungsrechte gerade in diesem Zusammenhang umfassend und wirkungsvoll erfüllt.
Überwachungsaufgaben
Neben der Mitbestimmung hat der Gesetzgeber dem Betriebsrat ja weitere Aufgaben – gerade beim Gesundheitsschutz – ins BetrVG geschrieben. Vor allem sind dies:
- Aufsichtspflichten in § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG,
- Die Unterstützung – auch gegenüber externen Stellen – von Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in § 89 BetrVG und
- Konsultationspflichten in § 90 BetrVG.
Daher sollte ein Betriebsrat einige Mitglieder bestimmen, die sich kontinuierlich mit diesen Aufgaben beschäftigen und z. B. kontrollieren, ob
- Maßnahmen, die lt. der Gefährdungsbeurteilungen als erforderlich festgestellt wurden, auch durchgeführt und beibehalten werden,
- Gefährdungsbeurteilungen auch wie vereinbart regelmäßig wiederholt werden,
- bei gegebenen Anlässen auch neue Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt werden und
- Gefährdungsbeurteilungen und ihre Ergebnisse sorgfältig und korrekt dokumentiert werden.
Diese Aufgabe sollte der Betriebsrat nicht allein dem „ASA“ (§ 11 ASiG) überlassen, sondern er sollte seine eigenen Aufsichts- und Beteiligungsrechte auch selbst wahrnehmen.
Erfahren Sie mehr:
In diesem Seminaren behandeln wir die Themen dieser Seite ausführlich und mit praktischen Beispielen:
- Der wirkungsvolle Ausschuss für Arbeitsschutz – Teil I: Grundlagen
- Der wirkungsvolle Ausschuss für Arbeitsschutz – Teil II: Betriebssicherheitsverordnung, Arbeitsstättenverordnung & Co.
- Der wirkungsvolle Ausschuss für Arbeitsschutz – Teil III: Gefährdungsbeurteilungen richtig machen